Krisenmanagement in einer Pandemie: 10 Schritte zur Rettung eines Sozialunternehmens

Stadtbienen-Team-2020

Autorin: Marie Fröhlich

Wenn du 2020 Kultur machst, hast du ein Problem.

Stadtbienen ist zwar ein gemeinnütziger Verein, lebt aber nicht von Förderungen oder Mitgliedsbeiträgen. Um unsere Löhne zu zahlen und andere Fixkosten zu decken, müssen wir Gewinne erwirtschaften – keine einfache Aufgabe in einem Jahr, das von Kontaktbeschränkungen und existenziellen Sorgen in der Bevölkerung geprägt ist. In einer Pandemie steht das Kultivieren eines neuen Hobbies eher weiter unten auf den To-Do-Listen der Menschen.

Rein in die Zeitmaschine: März 2020

Als wir uns am 11. März 2020 im Lager der BWB treffen, ahnt noch niemand, dass wir uns erst im Juni wiedersehen würden. Lager-Tage behandeln wir wie kleine Team-Events – wir machen eine Pause vom Büroalltag, es wird leckeres Essen bestellt, die Stimmung ist gut. Im März packen wir traditionell gemeinsam die Ausstattung, die unsere Referent:innen für ihre Imkerkurse benötigen, und bringen die Lernmaterialien für die Teilnehmer:innen auf den Weg. Jahreskurse starten zwischen Ende März und Anfang April – der Kursstart steht also kurz bevor, als uns wenige Tage nach dem Lager-Einsatz das Ausmaß der Pandemie bewusst wird.

Johannes und Marie im Lager der BWB

Lager-Tage sind für uns kleine Team-Events und eine willkommene Abwechslung vom Büro-Alltag. Hier gönnen sich Johannes und Marie gerade eine Pause.

Todesstoß für unsere Imkerkurse?

Wir sind irritiert von der Plötzlichkeit der Maßnahmen. Wochenlang hatten wir es der Regierung gleichgetan und Corona nicht so ernst genommen. Plötzlich ist der erste Lockdown da. Von einem Tag auf den anderen werden Veranstaltungen abgesagt und nicht-essenzielle Geschäfte geschlossen. Menschen versuchen, sich mit Hamsterkäufen ein Gefühl von Sicherheit zu verschaffen. Es wird über Sinn und Unsinn von Alltagsmasken diskutiert. Der Kursstart ist gefährdet – wirtschaftlich eine Katastrophe für unser kleines Unternehmen!

Imkerkurs bei den Stadtbienen: Teilnehmerinnen schauen in die BienenBox

Köpfe zusammenstecken beim Imkerkurs können wir erstmal vergessen. Konfettikanone zünden am gemeinsamen Arbeitsplatz auch.

Laptops und Konfetti: Eindruck vom Stadtbienen-Jahrestreffen 2019 in der Malche

Plötzlich sitzen wir in Jogginghosen mit Laptop am Küchentisch.

Uns trennt, was uns verbindet. Zwar sind wir allesamt homeoffice-erprobt, aber diese Situation ist nicht zu vergleichen mit der selbstgewählten Heimarbeit. Plötzlich sind wir mit der fünfköpfigen Familie an die Wohnung gefesselt – oder 24/7 ganz allein zuhause. Headsets sind ausverkauft, Klopapier sowieso. “Hört ihr mich? Moment, ich logg mich nochmal neu ein.” 

Die Umstellung auf komplett digitale Zusammenarbeit gelingt uns gut, da wir technisch bereits fürs remote Arbeiten ausgerüstet sind. Aber wir haben nicht damit gerechnet, wie sehr sich unser Arbeitsalltag dauerhaft verändern würde, und wie sehr die Arbeit im stillen Kämmerlein aufs Gemüt schlagen kann.

Die Luft ist raus!

Basierend auf dem Verlauf des Bienenjahres gibt es bei Stadtbienen ein Saisongeschäft. Imkerkurse beginnen immer im Frühjahr, fürs Büroteam wird es ab Herbst stressig. Als wir uns mit der Corona-Krise konfrontiert sehen, laufen wir seit fünf Monaten auf Hochtouren. Die Luft ist schon raus und Verzweiflung macht sich breit, denn die erwartete Verschnaufpause wird erstmal nicht kommen. Wir stellen uns existenzielle Fragen.

Können unsere Imker-Jahreskurse irgendwie stattfinden?
Müssen wir allen Teilnehmer:innen ihre Kursgebühr erstatten?
Stehen uns Finanzhilfen zu? War’s das jetzt für Stadtbienen?

Die beste Arbeit leisten wir, wenn wir zusammen sind – wie hier Jonas, Paul und Johannes beim Jahrestreffen 2019.

Der Wert einer guten Unternehmenskultur

Die Pflege einer guten Unternehmenskultur steht bei Stadtbienen ganz oben auf der Prioritätenliste. Wertschätzung, Gestaltungsmöglichkeit und selbstverantwortliches Arbeiten sind Grundpfeiler unseres Unternehmens. Wer Angst vor Fehlern hat, von veralteten Regeln eingeschränkt wird oder sich wie ein winziges Rad im Getriebe fühlt, wird sein kreatives Potenzial nicht entfalten können – vor allem nicht in einer Krise! Unternehmenskultur ist Arbeit, und die zahlt sich im März 2020 für uns aus. Gemeinsam beißen wir die Zähne zusammen und schmieden einen Notfallplan.

Welches Problem ist das drängendste? Welche Lösung würden wir uns wünschen, wenn wir unsere Kund:innen wären? Welche Ressourcen stehen uns zur Verfügung, um das Problem zu lösen?

Wir beschließen, den ersten (ohnehin theoretischen) Teil des Imkerkurses in ein digitales Format zu bringen. Zum Glück ist unsere Hamburger Kursleiterin Janine Feuer und Flamme für den Plan und macht sich sofort mit dem Kursteam an die Arbeit. In allen Belangen beweisen die Menschen in unserem Kursleiter:innen-Netzwerk Einfallsreichtum, Engagement und Verlässlichkeit und geben damit dem Berliner Büroteam Rückendeckung.

Wir sind so schlau wie ihr

Die alte Kommunikationsstrategie wird über den Haufen geworfen. Der Mitteilungs-Aufwand von unserer Seite ist enorm, denn wir wollen die rund 850 Kursteilnehmer:innen an allen Entwicklungen teilhaben lassen. Dabei treffen wir selber Entscheidungen von Woche zu Woche, nichts ist planbar und auf viele Fragen, die uns erreichen, wissen wir keine Antwort. Wir hoffen und bangen, dass die Praxistermine ab Mai stattfinden können – in Kleingruppen an der frischen Luft, da rechnen wir uns gute Chancen aus. Wir erarbeiten ein Hygienekonzept – ein Muss, wenn wir im Sommer die Praxistermine der Kurse durchführen wollen!

Bis es soweit ist, müssen wir schwierige Entscheidungen treffen. Was machen wir mit Kund:innen, die ihr Geld zurückhaben wollen? Am 20. Mai 2020 tritt das “Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungsvertragsrecht” in Kraft, das uns die Entscheidung abnimmt: Wir sind nicht verpflichtet, Kursgebühren zu erstatten, auch wenn der Kurs etwas anders als geplant stattfinden muss.

Wir wollen unseren Kurs-Teilnehmer:innen etwas bieten

Schon im April können wir unsere Imkerkurs-Teilnehmer:innen mit insgesamt sechs Stunden brandneuem Videomaterial versorgen. Unseren Ansprüchen genügt das aber nicht – wir möchten ihnen mehr bieten. Schließlich wissen wir, dass sie damit gerechnet haben, endlich ihre Kursgruppe kennenzulernen und ihre Referentin mit Fragen zu löchern. Wir werden erfinderisch, alle packen mit an. So entsteht eine Facebookgruppe, wir versorgen die Kursgruppen wöchentlich mit E-Mails zu verschiedenen Fachthemen, organisieren digitale Stammtische, die von unseren Referent:innen gehostet werden. Auf Kursebene finden Online-Fragerunden statt, in denen die Gruppen sich kontaktlos kennenlernen und austauschen können. 

Das digitale Orientierungsseminar mit Janine

Normalerweise gibt sie Stadtbienen-Imkerkurse live in Hamburg, heute hält Janine sich häufig vor ihrem Greenscreen auf.

“Gestern fand die Auftaktsitzung des Imkerkurses statt und ich wollte euch allen vom Stadtbienen-Verein jetzt einfach mal ein Lob aussprechen für die sehr gute Organisation und die Auftaktsitzungen im Online-Format, die ihr uns als Kursteilnehmer auf diesem Wege zugänglich gemacht habt! In Zeiten wie diesen ist das keine Selbstverständlichkeit – Hut ab und Danke!”
– Thomas (Imkerkurs 2020 in Köln)

Die Digitalisierung der Auftakt-Inhalte gibt uns die Möglichkeit, den Verkaufszeitraum für die Imkerkurse zu verlängern. Stadtbienengründer Johannes gibt kostenlose Online-Crashkurse und schafft es damit, noch ein paar mehr Menschen für die Imkerkurse zu gewinnen. Im April gibt unser bisher größter Unternehmenskunde uns die Zusage für Bienenprojekte an 34 neuen Standorten – wir atmen erleichtert auf.

In den Sommermonaten wiegen wir uns in trügerischer Sicherheit. Die Praxistermine laufen, die Fallzahlen sind niedrig. Teilnehmer:innen und Kursleiter:innen geben uns positives Feedback. Es fühlt sich alles fast wieder normal an.

Jetzt oder nie: Wir gehen auf Risiko

Real talk: so richtig entspannt war es bei uns eh noch nie. Schon vor der Pandemie war klar, dass bei Stadtbienen zu viel Arbeit auf zu wenigen Schultern lastet. Wir haben wieder und wieder unser Geschäftsmodell angezweifelt, über Möglichkeiten einer Förderung oder Investition debattiert. Bei einem Krisenmeeting im Mai legen wir die Karten auf den Tisch: wie soll es mit Stadtbienen weitergehen und wer ist im Boot? Beim Jahrestreffen im Juli setzen wir unsere Gedanken dann in einen konkreten Plan um.

Die Show muss weitergehen, aber ein paar grundlegende Dinge müssen sich ändern:

  1. Wenn wir neue Kursformate ausprobieren wollen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt für den Beginn der Planung.
  2. Unser Team muss wachsen, damit die vielfältigen Aufgaben besser verteilt werden können.
  3. Marketing und Sales sind keine Selbstläufer – Expertise muss her!

Schon im Mai wurde unser Team um Antje ergänzt – unsere Expertin für Buchhaltung und Office Management. Im Spätsommer stößt Claudia dazu. Mit 15 Jahren Erfahrung im Kund:innenservice in der Tourismusbranche hat sie ihre Krisensicherheit bewiesen und ist damit genau die Ergänzung, die wir vor der nächsten Hochsaison brauchen. Julia kommt zur gleichen Zeit dazu, um ein Konzept für einen ganz neuen Projektbereich – Bienenprojekte an Schulen und Kitas – zu entwickeln und 2021 umzusetzen.

Das On-Purpose-Programm: ein mutiger Schritt

Um unsere Marketing- und Sales-Expertisen-Lücke zu schließen, entscheiden wir uns für die Teilnahme am On-Purpose-Programm. Mit diesem Mentoring-Programm bekommt Stadtbienen die Chance, zwei Personen für jeweils sechs Monate ins Team zu holen. Das besondere: Das On-Purpose-Programm verbindet Menschen mit Arbeitserfahrung – meist in der freien Wirtschaft – mit Unternehmen und Organisationen aus dem sozial-ökologischen Sektor. Zur gegenseitigen Lernerfahrung gehören Mentoring und Coaching auf Seiten der sogenannten Associates dazu. Stadtbienen profitiert somit nicht nur vom Know-How der Associates, sondern auch vom Netzwerk des gesamten On-Purpose-Jahrgangs – Eine Win-Win Situation, bei der ein ungewöhnlicher Speed-Dating-Tag und ein Algorithmus über das perfekte Match entscheiden.

Wir haben das große Glück, im Oktober mit unserer Wunsch-Kandidatin das Programm starten zu dürfen. Nike packt von der ersten Sekunde an, um Stadtbienen in den Bereichen Marketing und Sales gut aufzustellen.

Mit dem “Lockdown light” im November 2020 wird klar: Wir sind noch nicht über’n Berg.

Ende Oktober kündigt die Regierung aufgrund rasch kletternder Fallzahlen einen weiteren Lockdown an. Da ist sie, die zweite Welle. Mit Ankündigung, aber trotzdem überwältigend. Wir können nur zusehen wie vom einen Tag auf den anderen die Buchungen ausbleiben.

Dabei legen wir uns jetzt nochmal richtig ins Zeug: Die im Frühjahr digitalisierten Inhalte werden überarbeitet und nochmal aufpoliert. Wir werden bei Instagram aktiv, reaktivieren den Blog und überarbeiten den Wissensbereich. Das Orientierungsseminar – ein Klassiker in unserem Portfolio – wird komplett digitalisiert. Wir rollen grundlegend Prozesse neu auf, verteilen Arbeitspakete um, treffen harte Entscheidungen bezüglich unserer Prioritäten. Und hoffen, dass es reicht.

Stadtbienen Imkerkurs

Imkerkurse bringen Menschen zusammen. So wie hier wollen wir das nach der Pandemie wieder sehen – im Moment wird bei den Praxisterminen Abstand gehalten.

Wir brennen für unsere Mission

Die Pandemie ändert nichts an dem Fakt, dass Wild- und Honigbienen 87% der weltweiten Bestäubungsleistung erbringen. Sie leiden unter den gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu Monokulturwüsten, der Versiegelung von Flächen und dem Schwinden von vielfältigen Blütenangeboten und Nistplätzen. Das Bewusstsein für Erhalt und Schutz von Wild- und Honigbienen mag durch die Pandemie vielleicht in den Hintergrund geraten sein, hat aber an Wichtigkeit nicht verloren. Unsere Mission gibt uns Kraft für die kommenden Monate – ob sich der Kampf gelohnt hat, sehen wir im nächsten Frühjahr.

Schritte zur Rettung deines Sozialunternehmens*

*wenn dein Sozialunternehmen so ist wie Stadtbienen

  1. Ruhe bewahren und dem Universum einen Vertrauensvorschuss geben
  2. Probleme identifizieren und priorisieren – Peanuts vs. potenzieller Untergang
  3. Ressourcen aufdecken und Energie bündeln – Worauf müssen wir uns konzentrieren; welche Arbeit kann liegenbleiben? Wer hat versteckte Talente, die nur auf eine solche Krise gewartet haben?
  4. Sehr viel und möglichst ehrlich miteinander reden – Mit dieser einen Sache geht es mir gerade schlecht. Kann ich dir heute was abnehmen? Meine Katze hat auf den Teppich gemacht. Du bist nicht für alles allein verantwortlich!
  5. Netzwerke aktivieren – Wer kennt jemanden, der jemanden kennt, der irgendwas kann, was von uns keine:r kann?
  6. Hygienekonzept erarbeiten (Ein unumgängliches pandemie-spezifisches To-Do)
  7. Teamspirit erhalten (= der wichtigste Schritt!) – Unterhaltet euch nicht nur über Arbeit! In digitalen Kaffeepausen hat man täglich die Chance auf einen Schnack mit den Kolleg:innen.
  8. Finanzhilfen ausschöpfen – Informiert euch regelmäßig (z. B. auf der Website des Bundesfinanzministeriums) und lasst euch keinen Euro entgehen!
  9. Eyes on the prize – Haltet euch eure gemeinsame Mission vor Augen und denkt daran, dass jede Krise irgendwann vorüber ist.
  10. Ein entspannendes, corona-sicheres Hobby suchen – vielleicht mit einem Imkerkurs bei Stadtbienen? 😉

Das Stadtbienen-Team hat sich im März 2020 der Herausforderung gestellt, das gemeinnützige Sozialunternehmen durch die Corona-Pandemie zu bringen. Die gemeinsame Mission, eine wertschätzende Unternehmenskultur und das starke Netzwerk erweisen sich dabei als wichtigste Ressourcen. Kursinhalte wurden digitalisiert und Zusatzangebote geschaffen, um Kund:innen glücklich zu machen. Mit dem Einstellen neuer Teammitglieder für spezifische Aufgaben ist Stadtbienen ein großes Risiko eingegangen – die Zeit wird zeigen, ob es sich gelohnt hat.

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